Mitte der 70er Jahre am Stadtrand von Hamburg. Ein neu gegründetes Gymnasium. Eine Kunstlehrerin mit Plateausohlen, knall roten Haaren, voll geschminktem Gesicht und bunten Klamotten. Alles in allem eine ziemlich skandalöse Erscheinung.
Das ist die Beschreibung der Frau, die unsere heutige Interviewpartnerin geprägt und inspiriert hat. Für die fünfte Folge des EWMD Podcast hat sich Simone Lersch mit Anja Henningsmeyer über Heidi Laute-Sies unterhalten. Heidi war Kunstlehrerin am Gymnasium und hat die Welt der damals 15-jährigen, braven Anja ganz schön auf den Kopf gestellt. Und das nicht nur aufgrund ihrer selbstbewussten Erscheinung, sondern vor allem auch durch ihre Wärme sowie ihr Einfühlungsvermögen. Auch wenn Heidi Anja in vielerlei Hinsicht inspiriert hat, bleibt ihr vor allem ein Moment immer im Gedächtnis: Am Boden lag ein nüchternes Bild und die Klasse des Kunstleistungskurses sollte sagen, was ihnen zu diesem Kunstwerk einfällt. Heidi verstand es durch gezielte Fragen die Diskussion zu lenken und ermöglichte es ihren Schüler*innen so, diesem Kunstwerk unvoreingenommen nahe zu kommen. Anja saß also im Kunstraum und es fühlte sich an, als würden auf einmal alle Türen aufgehen und Anja fand einen Zugang zu ihrer eigenen gestalterischen Kreativität. Und machte damit einen großen Schritt in ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung.
Genau das können wir auch heute noch von Heidi lernen: Wir können niemanden etwas lehren, aber wir können Menschen inspirieren, dass sie in sich etwas entdecken und sich für etwas interessieren. Eine spannende Folge mit wunderbar offenen und authentischen Einblicken und einer tollen Botschaft für alle Inspirator*innen da draußen!
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Simone Lersch
Willkommen bei "She did it" dem Podcast, indem ich Simone Lersch mit verschiedenen Interviewpartnerin aus dem EWMD-Netzwerk der Frage nachgehe, welche Frauen uns im Laufe unseres Lebens positiv beeinflusst haben. Hier entdeckst du spannende Geschichten von interessanten Frauen und holst dir so neue Impulse und Inspirationen für deinen persönlichen Werdegang. Hallo und herzlich willkommen zur neuen Folge des EWMD Podcasts "She did it". Mein Name ist Simone Lersch und im normalen Leben bin ich Rechtsanwältin für Wirtschafts und Medizin Strafrecht. Zur heutigen Folge darf ich Anja Henningsmeyer begrüßen.
Anja ist seit vielen Jahren im Kultur und Bildungsbereich tätig und hat auch schon die eine oder andere internationale Kooperation auf den Weg gebracht. Insgesamt ist ihr Tätigkeitsbereich aber so vielfältig, dass es euch am besten selbst erzählt. Liebe Anja, schön, dass du da bist.
Anja Henningsmeyer
Danke, Simone. Ja, das stimmt. Ich habe viele Berufstätigkeiten in meinem Leben ausgeübt. Ich habe viele Twists und Turns in meinem Leben gelebt. Ich bin jetzt seit 13 Jahren Geschäftsführerin der Hessischen Film und Medien Academy. Ich habe vorher sehr lange in China gelebt und hatte dort auch eine eigene Bildagentur ja und ich bin nebenberuflich auch derzeit noch Trainerin für gelingende Kommunikation, wie ich es nenne. Also vor allem für Verhandlungsführung. Und ja, das ist vielleicht so in aller Kürze.
Simone Lersch
Im Grunde genommen hast du selber ein sehr inspirierendes Leben geführt. Aber wir sprechen heute über jemand anderen. Wen hast du uns mitgebracht?
Anja Henningsmeyer
Ja, ich habe meine Kunst Erzieherin vom Gymnasium, Heidi Laute oder Heidi Laute-Sies, wie sie heute heißt, mitgebracht. Und vielleicht beginne ich mal mit einem Bild. Mitte der Siebzigerjahre, in einer bürgerlichen Gegend am Stadtrand von Hamburg, wo ich ja geboren bin. Ein neu gegründetes Gymnasium mit einem überwiegend sehr jungen Kollegium. Und diese Kunstlehrerin Heidi Laute, Mitte dreißig, stakst so mit großen, ausholenden Schritten auf Plateau Sohlen quer über den Schulhof. So hab ich sie irgendwie immer im Bild. Knallrote Haare, stark geschminkt, bunte Klamotten. Und wie gesagt, so super hohe Schuhe wie ein Glam-Rocker. Für mich als damals 15 jähriges braves Mittelstands Mädchen irgendwie schon eine ziemlich skandalöse Erscheinung. Muss ich wirklich sagen. Also nach dem Motto wie kann man nur so rumlaufen. Ja, ich war damals wie gesagt so zarte 15 oder 16 und das größte Kompliment, was man mir damals machen konnte, war: Na du siehst ja auch heute wieder aus wie auf dem Modemagazin entsprungen. Also genau die andere Richtung. Okay, also diese Heidi war nicht nur so eine ganz eigene Erscheinung mit einer sehr selbstbewussten Körpersprache, sondern sie hatte auch so im direkten Gespräch eine ganz große Zugewandtheit und Wärme. Also diese Frau hörte wirklich zu. Die ging wirklich auf einen ein. Sie war so ganz für einen da, wenn man mit ihr sprach. Also die hatte eine sehr starke Präsenz, was wir so Präsenz nennen und ich hatte eigentlich mit der Frau wenig zu tun. Ich hatte Deutsch Leistungskurs gewählt, ich war gar nicht so Kunst affin und das Zeichnen nach der Deltour lag mir sowieso überhaupt nicht. Aber eine Freundin von mir sagte:" Du, diese Heidi, die ist wirklich toll." Und dann hab ich noch ganz schnell in den Kunstleistungskurs gewechselt. Ja, und dann gab's so einen, eines Tages, einen ganz entscheidenden Moment.
Simone Lersch
Ein Schlüsselerlebnis?
Anja Henningsmeyer
Ja das kann man, das kann man wirklich so nennen. Ein Schlüsselerlebnis, ja. Vielleicht beschreibe ich diesen Moment erst einmal, wie er sozusagen aussah.
Also wir Schülerinnen und Heidi saßen im Kreis und auf dem Boden lag ein Siebdruck auf dem. Entweder war es ein Briloner Karton oder so eine Campbells Suppen Dose von Andy Warhol, also diesen berühmten Pop Art Künstler. Man kann das ganz gut im Internet googlen. Eines dieser frühen Werke von Andy Warhol, also eine nüchterne Nachbildung eines Verpackungskartons Kartons so sehr plakativ von Putz Schwämmen der Firma Briloner. Und wir sollten sagen, was uns zu diesem Kunstwerk einfällt. Und in meiner Erinnerung kamen natürlich aus dem Kreis all die automatischen Reaktionen, die man so haben kann, wenn man sich mit zeitgenössischer Kunst noch wenig beschäftigt hat. Also die ganzen massiven Vorurteile nach dem Motto: "Hä, das soll Kunst sein?", die man so raushaut. So, und nachdem wir also alle unsere Vorurteile rausgehauen hatte, fing Heidi an, mit einigen Fragen so unsere Gedanken zu leiten. Also so Fragen wie: Was ist Geschmack wert, wenn man Kunst beurteilen will? Was sind Vorurteile wert, wenn man doch eigentlich mal ein Werk genauer verstehen will? Und was wäre, wenn wir uns stattdessen einfach mal drauf einlassen, indem wir beschreiben, was wir wahrnehmen? Indem wir erst einmal analysieren, erst einmal interpretieren und erst ganz, ganz zum Schluss beurteilen und bewerten und dadurch einem Werk nahekommen. Und es ging sogar noch weiter: Wie erweitert sich unser Blickwinkel, wenn wir das Umfeld des Werkes mit einbeziehen? Weil Warhol, so in aller Kürze mal gesagt, Warhols Kunst löst sich ja vom Reinsehen her ab. Wie das schon Marcel Duchamp in den 1910 er Jahren gemacht hat, also eine Abwendung vom Kunstverständnis. Das Kunstwerk ist das, was ich sehe. Das ist es eben genau nicht. Warhol brachte eine ganz andere Dimension rein, nämlich die Wiederholbarkeit Kunst in serieller Herstellung, die Negierung des einmaligen Originals. Und damit einher geht natürlich auch eine Werteveränderung. Nämlich die geistige. Es ist die geistige Dimension, die ein Werk ausmacht. Ja, und das war dann auch wirklich, was du sagst, der Schlüsselmoment, also die Wirkung. Ich saß also im Kunstraum damals, und ich kann im Moment nur so wiedergeben, wie er sich in mir eingebrannt hat.
In meinem Kopf war's, als ginge ich einen langen Flur entlang, in dem eine Tür nach der anderen aufgeht. Also vielleicht kennst du das so aus Schloss Besichtigung, man durchquert einen Raum, gegenüber ist eine Tür, die geht wieder auf, dahinter ist wieder ein Raum. Dann geht wieder eine Tür auf und so geht man durch einen langen Gang und die Türen gehen alle auf. Und das passiert damals in meinem Kopf und ich erhielt plötzlich, wirklich plötzlich, Zugang zu dieser großen geistigen Dimension, die ein Kunstwerk haben kann.
Und ich verstand, dass die Wahrnehmung der Kunst vor mir sich komplett in meinem Kopf abspielt und das, was da in meinem Kopf passiert, das ist Gestaltung und das ist ebenso Kunst und das Denken ist genauso wichtig wie das Werk, was da auf dem Boden liegt oder an der Wand hängt oder so. Also das war so ein Moment, ja, so ein initialen Moment, der mir einen völlig anderen Zugang zur Welt geschaffen hat.
Simone Lersch
Das hört sich an wie eine Befreiung aus Ketten, von denen man gar nicht wusste, dass sie da sind.
Anja Henningsmeyer
Genau! Das ist schönes Bild, was du da kreierst. Absolut. Also mir wurde wirklich klar und das ist mir später immer wieder auf anderen Ebenen begegnet, dass ich die Welt durch mein Denken gestalte. Ich kreiere meine Perspektiven. Und je neugieriger ich bin und je weniger ich mich von Vorurteilen leiten lasse, was man heutzutage ja auch in anderen Kontexten Bias nennt, desto mehr erfahre ich über die Welt und und das ist eine große Macht. Ja, weil Wärme mit seiner geistigen Kraft gestaltet. Der ist ja auch nie einer Situation ausgeliefert, derjenige kann sich ja immer Alternativen schaffen. Und das war, ja, das war so ein ganz wichtiger Moment für mich, hin zur Kunst, hin zur Gestaltung meines Lebens und Abstand von der Idee, die ich dann genommen habe, ins Hotelfach zu gehen oder Hut-Macherin zu werden. Und dann habe ich mich gleich nach dem Abi, weil ich noch ein paar Wochen Zeit hatte, eine Mappe zu basteln, man musste so eine Bewerbungsmappe basteln, hab ich mich an der Kunstakademie beworben und wurde auch gleich genommen.
Ja, aber vielleicht zurück zu dieser Heidi. Weshalb sie ebenso wichtig für mich war, weil sie natürlich, sie war da in einer wichtigen Findungsphase als junge Frau. Und sie hat mir gezeigt z.B. Lass dich nicht vom ersten Eindruck leiten. Beurteile nichts von der Oberfläche her. Es könnte viel mehr drinstecken, als du vermutest. Und diese Erfahrung macht dich ja sowohl auf ihre Person, ja, skandalöse Erscheinung in Anführungsstrichen als auch in Sachen der Kunst, die sie uns nahegebracht hat.
Um es nochmal zu sagen, also durch ihre Person und und ihren Unterricht habe ich erst verstanden, wie viel ich gewinne, wenn ich auf die geistige Fähigkeit in meinem Kopf vertraue. Wenn ich meinem Denken Kraft gebe. Und diese Kraft kommt eben nicht durch Wissen oder durch Besserwissen, sondern wenn ich mich selber kritisch reflektiere und reflektierend anders rangehe.
Simone Lersch
Hast du nach der Schule noch Kontakt mit ihr gehabt?
Anja Henningsmeyer
Ja, recht lange. Tatsächlich hat sie uns auch oft zu sich nach Hause eingeladen, was für mich dann auch spannend war, weil es natürlich ein ganz unbegreiflicher Haushalt war. Ja, und da ich auch mit ihrem Bruder nach wie vor gut befreundet bin, kriege ich ab und zu immer nochmal mit, was sie so macht. Das ist ja auch immer eine sehr tätige Person gewesen, die nach ihrer Rente hat sie sich noch das Kachellegen beigebracht und zwar Bilder legen und danach Glasfenster herstellen. Also die ist immer am machen und immer selber am neu lernen und ist schon insgesamt eben eine sehr tätige Person. Also vielleicht noch so ein Wort auch zu ihrer Autorität oder zu ihrem Führungsverständnis. Eigentlich sind ja Lehrer oder Lehrerinnen sind ja eigentlich Autoritäten. Und manchmal sind sie ziemlich unangenehme Autoritäten. Aber Heidi war auch in dieser Hinsicht völlig besonders. Sie war wirklich eine Möglichmacherin. Sie war eine Unterstützerin. Und ich erinnere mich, wenn ich im Unterricht eine Idee hatte, was ich machen wollte und das Material war nicht da, ja dann ist sie eben auf die Suche gegangen für mich oder mit mir, um das Material zu beschaffen. Also sie hatte so eine Haltung. Wenn du was machen willst, dann go for it. Und die hat sie uns irgendwie ganz selbstverständlich vermittelt. Und dadurch hat sie uns natürlich auch unglaublich ermöglicht, uns auszuprobieren und uns zu entfalten. Ich glaube, dass diesen Mut, sich selbst zu vertrauen, seinen eigenen Kräften zu vertrauen und auch die Lust am Lernen, dass uns die auch in der heutigen Welt hilft, weil wir leben ja in einer sehr volatilen Welt, sage ich mal, wo wir immer neu lernen müssen, wir uns immer neu positionieren müssen. Und wenn du so eine lebenslange Lernlust entwickelt hast, dann hilft dir das natürlich auch, dich immer wieder neu zu erfinden. Dann bist du wie gesagt selten einer Situation ausgeliefert.
Simone Lersch
Hat dich diese Erfahrung mit Heidi und dem, was sie dir und ja auch deinen Mitschülerinnen hoffentlich beigebracht hat, auch noch in anderen Bereichen deines Lebens später begleitet.
Anja Henningsmeyer
Ja, und zwar wie ich schon angedeutet hat, dieses Führungsverständnis Verständnis also führen heißt möglich machen, heißt im Grunde Service für die Leute, die du da anleitest. Das ist ein Verständnis, was ich als Geschäftsführerin der hessischen Film und Medien Academy durchaus versuche, zumindest mit meinem Team zu leben. Und ich sehe auch einen Verhandlungsprozess wie ein kreatives Feld. Tatsächlich, indem ich erst einmal die Annahmen, mit denen ich in den Prozess reingehe, hinterfrage und die ganzen Optionen eruieren. Indem ich versuche, die Schnittmengen rauszufinden mit meinem Verhandlungspartner, mit meiner Verhandlungspartnern, die es braucht, um zu einem wirklichen Win-Win, dann auch zu diesem viel zitierten Win-Win, mit dem beide zufrieden sind, herauszugehen.
Simone Lersch
Was würdest du sagen? Können wir auch jetzt noch von Heidi lernen?
Anja Henningsmeyer
Also jetzt noch ist gut, weil sie ist mit mittlerweile 82! Aber wie gesagt noch immer sehr aktiv tätig und falls Sie diesen Podcast hört, sag ich doch schon mal ganz, ganz herzlichen Dank, Heidi, für diesen positiven Einfluss, den du auf meine Persönlichkeitsentwicklung und damit auf mein Leben genommen hast. Insgesamt für Lehrer ist das glaube ich das Entscheidende, dass ich sage auch selbst immer als Trainerin, ich kann niemandem etwas lehren, ich kann niemandem etwas beibringen, ich kann eigentlich nur Menschen inspirieren, dass sie in sich etwas entdecken, sich für etwas interessieren. Das kann meine Rolle sein. Und je besser ich das als Lehrerin verstehe, dass ich mir so eine möglich Macherin und eine Inspirator bin, desto besser ist es.
Simone Lersch
Würdest du also sagen, das Besondere an ihr war, dass sie als Lehrerin kein Wissen aufoktroyieren wollte, sondern es erfahrbar gemacht und euch in euren Ideen und Versuchen nach Kräften unterstützt hat?
Anja Henningsmeyer
Ja, also ich denke, so eins der schwierigsten Dinge im Leben ist ja seine Stellung im Leben zu finden, seine Position im Leben zu finden. Und wenn man auf dem Weg Menschen hat wie Heidi, die dich ermutigen, dein Leben und die Herausforderungen des Lebens als Forschungsgegenstand zu sehen und als kreativen Gestaltungsprozess greifen, dann stehst du eigentlich immer ganz gut da.
Simone Lersch
Vielen, vielen Dank, dass du diese Geschichte mit uns geteilt hast.
Anja Henningsmeyer
Gerne!
Simone Lersch
Es hat mir sehr viel Spaß mit dir gemacht.
Anja Henningsmeyer
Danke Simone, mir auch.